Lange ist´s her, da Albin Brun als Strassenmusiker durch Europa tingelte, unbeschwert in den Tag hinein lebte, sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser hielt, aber die Musik immer zuvorderst stellte, alle möglichen Instrumente spielte, an jeder Ecke und wo immer eine Kleinbühne frei war. Es war die Folkzeit der Siebziger Jahre. Festival Lenzburg. Folkclub Luzern. Alte Schweizer Lieder, Irisches, Rumänisches, Süditalienisches, Learning by doing. Eine Szene ohne Künstlichkeit und Kulturmanager. Es war die Basis, die so lange gehalten hat, dass Albin Brun nach Jahren mit Jazz, Theatermusik und freier Improvisation plötzlich wieder dort war, von wo er aufgebrochen war. Bei den alten Klängen, die er neu transformierte.
Absoluter Glücksfall
Auslöser dieses Prozesses war der Pilatus, die Gebirgslandschaft vor den Toren Luzerns, die Albin Brun bis heute gerne durchstreift. „Pilatus“ und „Pilatus Suite“ heissen seine beiden letzten Alben, mit denen der Multiinstrumentalist nicht nur ein grosses Echo auslöste, sondern zum erstenmal spürte, dass das jetzt definitiv seine Musik war. „Ich habe immer danach gesucht, etwas Eigenes zu machen. Mit dem Pilatus-Projekt habe ich eine Form gefunden dafür.“ Angekickt wurde er 1999 mit dem Förderpreis der Gemeinde Kriens am Fusse des Pilatus, wo er damals noch wohnte. Mit den 15´000 Franken hat er sich ein gutes Aufnahmegerät gekauft, seine musikalischen „Pilatus“-Skizzen in Form gebracht und damit eine CD produziert.
Als einen „absoluten Glücksfall“ bezeichnet Albin Brun diesen Preis – womit doch einmal bewiesen wäre, dass lokale Kulturförderung nicht nur eine schulterklopfende Pflichtübung ist, sondern auch Neues in Gang setzt. „Pilatus“ wurde eine Solo-CD, die Albin Brun im Overdub-Verfahren in seinem Atelier einspielte. Teils legte er bis zu 18 Spuren übereinander, in immer wieder neuen Konstellationen von diversen Saxophonen, Akkordeon, Gitarre, Toy-Piano, Piano, diversen Flöten, Feldaufnahmen, Stimme, Spielzeuginstrumenten, Alltagsgegenständen, Melodica und Perkussion. Dazu kam für einige Stücke die Stimme von Bruno Amstad, mit dem er seit Jahren immer wieder im Duo auftritt.
Der zersplitterte Berg
Der Pilatus, Luzerns Hausberg, ist der erste Felsenriegel, der sich Richtung Süden aus dem Mittelland erhebt. Ein wuchtiges Massiv mit einem langen Rücken, der sich bis ins Entlebuch krümmt. Ursprünglich „fractus mons“ geheissen, „zersplitterter Berg“, lag der Pilatus während Jahrhunderten im Nebel einer finsteren Sage. Angst und offizielle Verbote sorgten dafür, dass sich nur wenige ins Pilatusgebiet wagten. Noch 1564 kamen zwei Männer in den Turm, weil sie den Frevel begangen hatten, den Berg zu besteigen. Gemäss Sage war der Geist des römischen Statthalters Pontius Pilatus, der im Pilatusmassiv sein Unwesen trieb, von einem „fahrenden Schüler aus Salamanca“ in einen kleinen See gebannt worden. Nur am Karfreitag durfte er jeweils, in blutbeflecktem Richtergewand, heraussteigen.
Der Berg hat die Sage schon längst überdauert. Touristen aus aller Welt haben ihn bestiegen, Einheimische nutzen ihn als Naherholungsgebiet. Den Pilatus hat das nicht erschüttert. Wind und Wetter haben ihn rau und urtümlich gehalten. Für schweizerische Verhältnisse ist er geradezu eine Wildnis am Rande einer Kleinstadt geblieben – und für naturverbundene Menschen wie Albin Brun eine Inspiration. Schon als kleiner Bub hat er mit seinem Vater den Pilatus bestiegen, ist durch den Hochwald und über die Kreten gewandert, hat die Plätze und Landschaften kennen gelernt, deren Namen heute seine Stücke tragen.
Mondmilchloch. Chlingen. Ämsigenplanggen. Chretzen. Widderfeld. Chastelendossen. Heitertannli. Goldwang. Laubrisleten. Starrenwang. Schy.
Heimatlich-Experimentelles
Für Albin Brun sind das nie nur Namen gewesen, sondern Katalysatoren für Bilder, Klänge, Imaginationen. Daraus hat er seine Musik geschöpft. Sie ist erfüllt mit besinnlichen Stimmungen, kann aber auch schräg und lüpfig werden. In seinen Pilatus-Stücken mischen sich experimentelle Spieltechniken mit heimatlichen Traditionen. Das alte Wort Sehnsucht trifft auf das neue Wort Ambient. Heimat blinzelt in die Globalität.
Letztes Jahr erschien die CD „Pilatus-Suite“, auf der Albin Brun seine alpin gefärbte Musik weiter entwickelt hat. Diesmal kam der Anstoss vom Festival „Alpentöne“ in Altdorf. Er wurde eingeladen, das Pilatus-Projekt aufzuführen. Nur: Wie sollte er das technisch bewerkstelligen? Die Lösung war bald klar: „Ich stellte eine Band zusammen, arrangierte die Stücke um, ergänzte sie und schrieb neue Kompositionen. Dann brachte ich alles in eine suitenartige Abfolge.“ Albins Alpin Quintett war geboren.
Die Musiker kannte Brun aus früheren Bands oder Projekten. Mit Marco Käppeli (Schlagzeug, Perkussion, Baby-Alphorn) und Marc Unternährer (Tuba, Alphorn, Melodica) spielt er bei der Interkantonalen Blasabfuhr, mit Pascal Bruggisser (Akkordeon, Toy-Piano) bei Kraanich. „Roland von Flüe war der erste, der mir für das Live-Projekt in den Sinn kam. Sein Tenorsax ist wie ein Alter Ego zu meinem Spiel. Bassklarinette liebe ich sowieso. Und Roli hat einen starken Bezug zu den Bergen.“
Offen für alles
Mit dem Alpin Quintett hat Albin Brun einen Kreis geschlossen, der in seiner Folkzeit begann: Mit seiner allerersten Gruppe hatte er vor 25 Jahren ausschliesslich alte Schweizermusik gespielt. Auch alle späteren musikalischen Erfahrungen sind in seinen Kompositionen verarbeitet. Volksmusik, Jazz, freie Improvisation. „Ich war immer offen für alles, und ich bin es heute noch.“ Nach der Folkzeit absolvierte Albin Brun ein Studium an der Akademie für Schul- und Kirchenmusik Luzern und besuchte, teils parallel, Kurse an den Jazzschulen in Luzern, Bern und St. Gallen. Nur Rockmusik hat er ausgelassen. „Da hatte ich nie einen grossen Draht dazu. Als Jugendlicher fühlte ich mich in den Discos ziemlich verloren.“
Albins alpine Musik strahlt eine tiefe Ruhe aus. Die Grundstimmung ist heiter-melancholisch. Aber da sind auch Schalk und Ausgelassenheit. Freie Jazzimprovisationen fahren ins Volkstümliche, Archaisches mischt sich mit Sakralem, alte Tanzmelodien rufen zum Fest, Karges und Atmosphärisches hat seinen Platz. „Galtigen“ gar klingt wie eine voralpine Replik auf Albert Ayler. Es ist eine alpin verortete Heimatmusik, die auch Jazzeinflüsse und südliche Folkloren integriert und sich nicht geniert, Seele zu haben. „Das Erzeugen von Stimmungen mit akustischen Instrumenten ist mir wichtig. Ich bin kein Technikfreak.“
Für Albin Brun ist die Pilatus-Musik wie ein Befreiungsschlag. Er habe immer darunter gelitten, „dass die Schweizer ein so komisches Verhältnis zur Volksmusik haben“. Brun, der selber jahrelang südosteuropäische oder irische Volksmusik gespielt hat, erinnert an das Standarderlebnis, wenn Schweizer im Ausland aufgefordert werden, etwas aus ihrer Kultur zu singen oder zu spielen, und dann wie ein Esel am Berg stehen. „Eine Katastrophe.“ In andern Regionen, etwa in Georgien, in Griechenland oder in der Bretagne, habe er das Gegenteil erlebt. „Wo Leute sich mit ihrer Volksmusik identifizieren, kann sie eine unglaubliche Kraft entwickeln. Da muss sie nicht einmal rhythmisch oder harmonisch neu aufbereitet werden.“
Ein heikles Gebiet
Albin Brun ist sich bewusst, dass die Verbindung von Volksmusik und Jazz inzwischen eine Modeströmung geworden ist „und man schnell in den Verdacht gerät, auf einen fahrenden Zug aufzuspringen“. Es sei nie seine Intention gewesen, die einheimische Volksmusik zu erneuern oder Ländler aufzupeppen. „Ich will meine eigene Musik machen, mit dem, was hier gewachsen ist, aber trotzdem mit einem weiten Horizont.“ Das freie Spiel ist nach wie vor wichtig. Mit Heimattümelei hat er nichts am Hut. „An der Schweizer Volksmusik schätze ich besonders die archaischen Sachen wie Zäuerli, Naturjuuz, Chüereihen, Alphorn. Aber das ist ein heikles Gebiet. Da kann man nicht selten in eine komische Nachbarschaft geraten.“
Seit Jahren verdient sich Albin Brun den Lebensunterhalt mit einem Teilzeit-Pensum Saxophon-Unterricht an der Kantonsschule Luzern. Allein von seinen musikalischen Projekten könnte er - mit einer Familie und drei Kindern - nicht leben. Als zunehmend belastend empfindet er den administrativen Aufwand, um die nötigen Gigs zu mischeln, mit seiner Musik präsent zu sein. Wenn immer möglich geht er in die Natur, steigt auf den Berg, macht eine Skitour, oder auch nur einen Abendspaziergang im Quartier. „Wenn ich einen ganzen Tag lang drinnen bleiben muss, halte ich es fast nicht aus.“ Die Natur wahrzunehmen, draussen unterwegs zu sein, das sei für ihn noch immer die beste Möglichkeit, Energien zu tanken und sich aufzuladen. Irgendwie, sagt er, habe das auch mit Sehnsucht zu tun. Wie seine Musik.
Pirmin Bossart
Programmzeitung Jazzfestival Schaffhausen 2004